Kindergarten-Gehabe in der Mittelalterszene
So meine lieben Leute: Hier ist der Blogpost, auf den ich mich seit Beginn von „Möhrchen und das Mittelalter“ am meisten freue. Ursprünglich sollte dies auch der erste Beitrag werden. Allerdings wollte ich euch nicht sofort vergraulen, sodass ich es immer weiter weg geschoben habe. Bis heute.
Trommelwirbel bitte – Es geht um das ständige Gezänke innerhalb der Mittelalterszene, den ständigen Kampf zwischen Authentisch und Un-authentisch. Reenactor vs. Histotainment. A-Papst gegen Gromi. Geschichtsfanatiker gegen Gewandungstrinker… und so weiter.
Doch bevor ich hier meine lange zurückgehaltene, sorgfältig aufgearbeite Meinung ausbreite, ein paar Worte vorweg: Ja, der nachfolgende Artikel enthält unglaublich viele Klischees. Keine Frage. Es ist (m)eine Meinung zu der ganzen Sache, ich lade euch herzlich ein, in den Kommentaren mit mir darüber zu diskutieren! Ich freue mich über eure Ansichten!
Und keine Sorge: Ich schimpfe mit jedem. Mit den Reens, den Histotainments, mit mir, dir, uns allen. Außer mit den Neueinsteigern, die können noch nichts dafür. Aber sonst möchte ich hier keine Seite in Schutz nehmen oder die Schuld geben. Wenn ich schon jemandem auf die Füße trete, dann sollte ich auf alle Füße treten. Nicht wahr?
Eine kurze Beschreibung des Ist-Zustandes
Für alle Neueinsteiger, die jetzt nicht wissen, worum es geht: Die Mittelalterszene spaltet sich grob gesehen in zwei Lager. Das eine sind die Reenactors/Living History Darsteller, die im Allgemeinen eher nach historischen Funden, Bildern und ärchaologischen Erkenntnissen arbeiten. Also alles historisch gesehen akkurat und authentisch. Was nicht authentisch ist, ist nicht gern gesehen.
Im anderen findet man die Histotainments, die keinen (oder wenig) Wert auf historische Korrektheit ihrer Darstellung legen. Ich bezeichne es lieber als „Fantasy“-Darstellung, weil Vieles auf Serien, Computerspielen und Filmen des Genres beruht. Also sieht irgendwie mittelalterlich aus, hat’s in der Geschichte aber so nicht gegeben. So weit, so gut.
Wir haben also zwei Gruppen von Leuten, die das Hobby total unterschiedlich ausleben. Jeder hat andere Maßstäbe, Grundsätze und Vorstellungen, wie seine Gewandung und das ganze Equipment auszusehen hat. Problem bei der Sache: Ab und an treffen beide Mentalitäten auf dem Markt aufeinander. Und oft knallt es dann. Ihr könnt euch das ungefähr wie ein Gespräch zwischen Bayern-München-Fans und Borussia-Dortmund-Anhängern vorstellen. Hat irgendwie alles keine Substanz, aber jeder hat den tolleren Verein. Man möchte brechen.
Teilweise artet das Ganze dann in sinnlose Diskussionen aus, wer denn sein Hobby besser macht und der Gegenüber hat doch sowieso keine Ahnung. Ja meine lieben Neueinsteiger, spätestens jetzt wisst ihr, warum ich euch immer sage, dass es wichtig ist, authentisch von unauthentisch zu unterscheiden. Damit ihr für solche Situationen gewappnet seid. Oder ihnen, hoffentlich spätestens nach diesem Text, aus dem Weg gehen könnt.
Der typische Gesprächsverlauf
Eigentlich kann man sämtliche dieser Diskussionen auf folgendes Beispiel runterbrechen: (Gromi steht hierbei für GrobMittelalter, umgangssprachlich für Histotainment)
Gromi: „Schau mal, ich habe mir neulich diese supercoole Lederarmschützer gebaut.“
Reen: „Die sind aber nicht A!“
Gromi: „Das ist mir doch egal, ob die A sind oder nicht, das interessiert mich nicht.“
Reen: „Historisch Korrekt wäre aber…“
Gromi: „Ach, ihr A-Päpste und Gewandungsnazis“
Reen: „Wenn man das Hobby nicht historisch korrekt ausführt, kann man’s auch lassen“
Gromi: „Ich leb‘ mein Hobby, wie ich will!“
Reen: „Sieht aber beschissen aus“
Gromi: „Deins sieht auch beschissen aus“
Reen: „Meins ist aber wenigstens authentisch“
…
Und so weiter… Bis einer weint. Oder beide.
Mir ist bewusst, dass das ziemlich überspitzt ist, aber jede A-Debatte, in der ich dabei war, lief ungefähr so ab. Ehrlich Leute, mein 12-jähriger Neffe kann sachlicher argumentieren als ihr. Und ich spreche wieder bewusst beide Seiten an. Muss das sein? Sind wir nicht langsam aus dem Alter raus? „Uuuuuh mein Bobby-Car ist viel toller als deins!“ Sorry, aber es ist einfach nur affig. Seid ihr wirklich so verbohrt, dass ihr keine andere Meinung zulasst?
Ein Erklärungsversuch
Was war passiert? Ich kann es mir nur so erklären: Der Gromi wollte ein anerkennendes Wort für seine Arbeit. Der Reen eher sein jahrelang erarbeitetes Wissen unter die Leute bringen. Der Gromi fühlt sich in seiner Arbeit nicht anerkannt. Der Reen nicht in seinem Wissen. Aus Trotz versuchen beide, ihre Ansichten zu verteidigen. Ansichten, die nie angegriffen wurden.
Mann, Mann, Mann… Soll alles wirklich nur auf verletztem Stolz basieren? Keine Ahnung. Allerdings kenn ich auch Leute, die dir einfach IMMER ihre Meinung auf’s Brot schmieren wollen. Egal, ob man sie hören will, oder nicht. Ganz ehrlich? Meiner Meinung nach fußt alles auf mangelndem Interesse dem anderen gegenüber. „MEINE Meinung ist alles. Eigentlich rede ich nur mit dir, um MEINE Meinung darzubringen. Was du erzählst, interessiert mich gar nicht.“
Klingt hart. Ist schwer einzugestehen. Ich weiß. Vielleicht sollten wir alle mal kurz in uns gehen und uns fragen, warum wir eigentlich darin einsteigen. Um euch ein wenig zu trösten: Ich war nicht anders. Und ich kenn beide Seiten.
Als Reenactor war mir immer wichtig, sämtliche Menschen über die nicht historische Korrektheit ihrer Kleidung aufzuklären. „Das ist aber nicht A.“, war auch einer meiner Standard-Sätze. Und warum wollte ich das? Um zu zeigen, dass ich mich vermeintlich mehr mit dem Hobby beschäftigt habe, als mein Gegenüber. Ego-Push durch Belehrung, sozusagen. Mir ging es dabei nicht darum, dem anderen zu helfen. Mir ging es schlicht um meine Besserwisserei. Ja, ich fühle mich immer noch schlecht deswegen. Aber hey, ich hab‘ mich geändert!
Seit ich wieder auf der Gromi-Seite zuhause bin, hat sich das genau umgedreht. Sobald jemand mit dem großen „A“ kommt, bin ich genervt. Und ja, ich fühle mich manchmal tatsächlich ein wenig angegriffen. Obwohl ich das oft nicht müsste. Einfach, weil nicht jeder Tipp von einem Reen gleich böse gemeint ist. Und deshalb ist es Blödsinn, gleich auf Verteidigung zu wechseln, bevor man weiß, was der Gegenüber überhaupt sagen möchte.
Schluss damit!
Wie ihr seht, nehme ich keine Seite in Schutz. Und deshalb geht meine Bitte auch an Alle. Hört auf mit dem Scheiß! Es gibt da draußen schon genug Intoleranz, da müssen unser (sonst sehr offenes) Hobby doch nicht auch noch mit dem Blödsinn versauen. Das macht so keinen Spaß. Zumal es irgendwie mehr Gemeinsamkeiten, als Unterschiede sind.
- Wir haben alle unsere Freude daran, in Baumwoll- und Leinenzelten zu übernachten. Egal ob Dauerregen oder 35 Grad im Schatten.
- Wir lieben Lagerfeuer, gute Getränke und nette Menschen.
- Wir stecken alle sehr viel Zeit und Geld in unser Hobby. Und ganz viel Liebe!
- Wir fahren teilweise hunderte von Kilometern, um auf den Komfort und die Einfachheit der modernen Welt zu verzichten
Und vor allem:
- Für die Außenstehenden sind wir alle Spinner! Egal, ob im historischen Gewand oder als Fantasy-Elfe.
Kommt schon. Das sind doch fünf super Gründe, um das Kriegsbeil mal beiseite zu schaffen, oder? Es gibt so viel, was wir von einander lernen können. Und auch das gilt auch für beide Seiten! Beispiele gefällig?
Was der Reenactor vom Gromi lernen kann:
- Einfach mal den Markt genießen. Ohne A-Brille und ständiger Suche nach Dingen, über die man schimpfen kann. Lasst die Atmosphäre auf euch wirken, unterhaltet euch mit Leuten, hört euch völlig unauthentische Mittelalter-Musik an. Das macht Spaß!
- Sich auch von moderen und phantastischen Dingen inspieren lassen. Klar, ihr solltet die Dinge nicht 1:1 übernehmen. Aber es ist doch mal ganz spannend nachzuschauen, worauf Fantasykleidung eigentlich basiert. Ich schaue mir z.B. gerne Fantasyklamotten an und such dann nach den historischen Pendants. Ist unglaublich interessant!
Was der Gromi vom Reen lernen kann:
- Geschichtliche Kenntnisse sind nie schlecht. Und tun nicht weh. Uuund können ziemlich spannend sein.
- Alte Handwerke und Handarbeitstechniken können auch super in einer etwas moderneren Form umgesetzt werden. Historische Schnitte sind für’s Reenactment, wie für’s Fantasy geeignet. Also ebenfalls eine tolle Inspirationsquelle!
Seht ihr? Wenn man dem gegenüber zuhört, sich für ihn und seine Ausübung des Hobbys interessiert, profitieren alle davon! Lasst das nächste Mal einfach die Vorurteile zuhause, packt dafür die doppelte Menge Interesse ein. Dann wird es sicher ein lustiges Lagerwochenende, ohne nervige Diskussionen!
Zum Abschluss
Natürlich ist mir klar, dass nicht alle so sind. Es gibt viele, tolle Leute, mit denen man sich gut unterhalten kann. Die vielleicht sogar beides machen – Fantasy und Reenactment.
Am liebsten sind mir die Menschen, mit denen ich abends gemütlich am Lagerfeuer sitze. Alle haben einen Becher in der Hand. Es wird wild durcheinander geredet. Irgendwann erzähle ich dann, dass ich mir letztens mit der Nähmaschine in den Finger genäht habe. Und von nebenan kommt dann: „Ja, ich hab mir beim Handnähen auch 5x in den selben Finger gestochen.“ Und dann lachen wir alle, weil wir zu blöd sind, unser Handwerkszeug zu bedienen. Ich mit meiner maschinengenähten, mein Gegenüber mit der handgenähten Tunika. Es werden neue Getränke geholt. Alle lachen immernoch. Und haben Spaß!
Das sind die Momente, in denen ich mir denke: Mensch, trotz des ganzen Rumgemeckers… Mein Hobby ist einfach das wunderbarste der Welt!
In diesem Sinne, habt euch lieb!
Möhrchen
25 Gedanken zu „Der ewige Krieg zwischen Histotainment und Reenactment“